Studientag Lebendige Kirche
Am Samstag, 4. November fuhren 5 Studentinnen und Studenten zusammen mit Martin Brunner-Artho nach Zürich. Gleich nach der Ankunft begannen feine Regentropfen auf uns niederzuprasseln. Zügigen Schrittes liefen wir zum Café Primero, das unweit der Langstrasse mitten im Zürcher Zentrum beheimatet ist. Dort empfing uns Sr. Ariane sehr herzlich und begann uns alsbald von ihrer Arbeit mit den Leuten auf der Gasse und im Milieu zu berichten. Als der Regen stärker wurde, traten wir ins sehr bunte, heimelig und liebevoll eingerichtete Café, das bei genauerem Hinsehen voller Dekorationen ist, die die Gäste des Cafés mitbringen: selbstgebastelte Collagen, gemalte Bilder, religiöse Bilder aus ihren Heimatländern und viele unterschiedliche Muttergottesdarstellungen. Mit bewegter Stimme erzählte uns Sr. Ariane die Geschichte einer südamerikanischen Mutter, die an einem Gehirntumor erkrankt war, deren Rechnungen sich stapelten und sich ausser Stande sah, diese in nützlicher Frist bezahlen zu können. Ihr Sohn brauchte ebenfalls Geld für sein Studium. Aus dieser Not heraus begann sie sich zu prostituieren und kam schliesslich als Prostituierte in die Schweiz. Vor einigen Monaten begannen die Symptome des Hirntumors wieder. Nach einer Kontrolle im Krankenhaus war klar, dass die Symptome psychosomatischer Natur waren. Das Leid und Trauma hatte sich tief in ihren Körper eingegraben und verschaffte sich durch diese Symptome ein neuerliches Ventil. Ein kleiner Durchgang durch die etwas mehr als 50m2 grosse Fläche des Cafés legte ein als Galerie gestaltetes kleines Büro für die vier Mitarbeiter offen, eine kleine Küche, Toiletten, einige Tische und gemütliche Sitzgelegenheiten. Unterhalb der Galerie befindet sich das Herzstück des Raumes; die kleine Kapelle, in deren Tabernakel allgegenwärtig das Allerheiligste ruht. In ihren Erzählungen betonte Sr. Ariane, dass sie die Arbeit mit den vielen in Not geratenen Menschen nur aus ihrer Beziehung zu Gott gut leben kann. Sie verbringt morgens eine kontemplative Zeit im Gebet und nachmittags begegnet Christus ihr im Antlitz jedes Menschen. Auf Wunsch der Cafégäste feiern sie seit längerer Zeit am Sonntagabend gemeinsam Hl. Messe in der kleinen Kapelle.
Nach dieser Einführung ging es für uns Studierende an die Arbeit. Ich blieb im Café zurück und servierte in den folgenden Stunden Kaffee, Wasser, warme Getränke, Sandwiches, Salate, Kuchen und Patisserie in allen mir verfügbaren Sprachen. Manchmal mussten Hände und Füsse zur Verständigung reichen. Schnell merkte ich, dass alle unsere Gäste sehr dankbar waren, Zuflucht vor der Nässe zu finden und sich hier sehr wohl fühlten. Einige waren müde und breiteten sich neben dem Kapelleneingang auf den Liegemöglichkeiten aus und schliefen friedlich vor sich hin.
Schneller als mir lieb war, ging die Zeit um und in eine Regenjacke gepackt ging es zum nächsten Treffpunkt, an dem schon weitere Freiwillige auf uns warteten. Schnell huschten wir ins Lager und befüllten unsere Bollerwagen mit Lebensmitteln und Getränken und fuhren damit zum Hintereingang des 25h Hotels. Dort verteilten wir bei strömenden Regen Getreideriegel, Brot, Getränke und ein warmes Menü an alle Bedürftigen, die sich bei dem unwirtlichen Wetter dort einfanden. Dabei hatte ich immer wieder Sr. Arianes Stimme im Kopf, die nachdrücklich erzählte, dass alle Projekte und Ideen auf Nachfrage und Wunsch der Bedürftigen nach und nach entstanden seien. Also: Gäbe es keine Not, wären wir nicht hier.
Nach weiteren drei Stunden war ich durchnässt, mir war kalt und gleichzeitig wagte ich mich angesichts der Menschen, die in Wind und Regen zu Fuss hierhergekommen waren und weit weniger gut gegen die Nässe und Kälte gerüstet waren, kaum zu beschweren. Nach einer kurzen Pause, in der wir ins Warme flohen, etwas zu Abend essen und einen Toilettenstopp einlegen konnten, wagten wir es von Neuem nach draussen. Ein neuer Lieferwagen für die zweite Schicht war eingetroffen und wir verteilten Salat, Gemüse, Früchte und Frischwaren erneut auf die Bollerwagen.
Bevor wir loslegen konnten, kamen P. Karl und Sr. Ariane auf uns zu: Unsere letzte Mission für diesen Abend begann. Zu Fuss gingen wir zur Langstrasse, begegneten auf dem Weg einem Freund von Sr. Ariane, der sich durch die rollenden Fahrzeuge, geschickt einen Weg über die Langstrasse auf unsere Seite bahnte, und dann freudejauchzend in Sr. Arianes Umarmung versank. Die beiden wirkten in ihrer Unterhaltung wie alte Freunde, die sich schon lange nicht mehr gesehen haben. Sie verabredeten sich für die nächsten Tage im Café Primero.
Danach war es nicht mehr weit zu unserer letzten Station, einem berüchtigten Bordell, in dem wir die Prostituierten besuchen und sie mit Hygieneartikeln, Socken und einem Wollschal versorgen würden. Von der Langstrasse bogen wir in eine Nebengasse ein, die uns zum Hintereingang führte. Nach einem kurzen Telefonat war klar, dass wir erwartet wurden und eintreten durften. Der Lieferwagen mit P. Karl war schon da und wir schnappten uns jeweils vier Tüten und stiegen eiligen Schrittes bis zur obersten Etage, von der aus wir uns Stock für Stock nach unten arbeiteten. Zimmer für Zimmer besuchten wir und begegneten dabei schimmligen Decken, kaputten Bodenfliesen, schäbigen Möbeln, Matratzen, die nur auf dem Boden lagen, einem alten ausgeschalteten Kühlschrank, der nach Fisch müffelte und blitzblank geschrubbten Küchenzeilen, in denen jeweils eine Pfanne, wenig Besteck und Geschirr zum Kochen bereit lagen, sowie kleinen WCs und überalterten Duschen. Die Frauen teilen sich die Zimmer jeweils zu zweit, dritt, viert oder fünft… Privatsphäre? Fehlanzeige! Die Zimmer müssen als Schlafzimmer, Aufenthaltsraum und Arbeitsraum, in dem sie Freier empfangen, herhalten. Wie das logistisch ganz genau funktioniert – kann ich mir kaum ausmalen.
Die Frauen, denen wir begegneten, waren zum Teil etwas schläfrig oder irritiert, dass wir so plötzlich da standen, doch alle waren dankbar für die Tüten voller für sie wertvoller Güter. Auf dem Weg zurück ins Primero, traf mich die Not, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit dieser Frauen erst richtig und bei der Abschlussrunde fehlten mir grosse Worte.
Eigentlich bin ich beschämt, wie viele Menschen in unserem Heimatland in Not geraten und in prekären Umständen leben müssen, ohne dass ich mich jemals mit ihnen unterhalten oder ihnen auf Augenhöhe begegnet wäre. Umso dankbarer bin ich für diesen Tag voller ehrlicher Unterhaltungen und Einblicke. Ein grosses Danke an den Verein incontro, der so wichtige Arbeit leistet und an alle Mitarbeiter/-innen und Freiwilligen, die tagtäglich für die Menschen im Milieu und auf der Gasse Gutes tun. Vergelts Euch Gott!
Maria Ammann, Theologiestudentin in Fribourg
Bild: Martin Brunner-Artho
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